
Illustration: Oleg Buyevsky
Der leere Himmel
Der Niedergang der organisierten Religion war eine Befreiung, aber er hat auch eine Leere hinterlassen, die bis heute nicht gefüllt ist.
von Linus Westheuser und Ole Rauch
»Der Mann, der Gott exekutierte« heißt eine Kurzgeschichte von Eduardo Galeano. Darin erzählt er vom Volkskommissar Anatoli Lunacharsky, der 1918, inmitten der Moskauer Revolutionswirren, in einer Gerichtsverhandlung gegen Gott den Vorsitz hatte.
»Auf dem Stuhl des Angeklagten lag eine Bibel. Der Anklage zufolge hatte Gott im Laufe der Geschichte zahllose Verbrechen gegen die Menschheit begangen. Der mit dem Fall betraute Verteidiger argumentierte, dass Gott nicht im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte und deshalb verhandlungsunfähig sei. Doch das Gericht verurteilte ihn dennoch zum Tode. Im Morgengrauen dieses Tages wurden fünf Maschinengewehrsalven in den Himmel abgefeuert.«
Beim Wort Gott greifen viele Linke auch heute noch instinktiv zur Kalaschnikow. Der Reflex ist nachvollziehbar. Organisierte Religion war in der Geschichte oft zuallererst Ideologie, Legitimierung von Herrschaft, reaktionäre Indoktrinierung, patriarchale Unterwerfung. Sie war ein symbolischer Kleister für gesellschaftliche Widersprüche, eine Verdichtung kultureller Vorurteile, eine Verlängerung der Gesellschaftshierarchie ins Gewissen des Einzelnen. Als Marx schrieb, »die Kritik der Religion ist die Voraussetzung aller Kritik«, war er Teil eines immensen aufklärerischen Emanzipationsprojekts.
Doch so notwendig und befreiend die Religionskritik in klerikalen Herrschaftszeiten war, so albern wäre es heute, sich die Kostüme des 19. Jahrhunderts überzuwerfen oder mit dem großen Gestus von Kommissar Lunacharsky Gewehrsalven in einen leeren Himmel zu schießen. Für die Legitimierung von politischer oder ökonomischer Herrschaft wird die Religion nicht mehr gebraucht. Der gegenwärtige Kapitalismus steht und fällt nicht mit dem Glauben an religiöse Dogmen, sondern mit dem Benzinpreis, der Bürokratie, dem Geschäftsbericht und den Arbeitslosenzahlen, anders gesagt: mit dem stummen Zwang der Verhältnisse; dem Lauf der Dinge, wie sie eben sind.
Und auch die Kirchen gehen – zumindest hierzulande – denselben Weg wie alle Masseninstitutionen der organisierten Moderne. Ganz wie bei Parteimitgliedschaften, gewerkschaftlichen Organisierungsgraden, dauerhaften Ehen, Kegelvereinen und Nachbarschaftstreffs gibt es auch in der Entwicklung der Kirchenmitgliedschaften nur eine Richtung: abwärts. In Deutschland sind heute noch 24 Prozent der Menschen auf dem Papier Katholiken, 22 Prozent Protestanten und 4 Prozent Muslime. Der ADAC hat mehr Mitglieder als jede Religionsgemeinschaft. Noch Anfang der 1990er Jahre waren über 70 Prozent Angehörige einer der großen christlichen Kirchen, heute gehört knapp die Hälfte der Bevölkerung keiner Konfession an.
Diese Zahlen übertünchen dabei eine noch viel tiefergehende Erosion: Denn selbst von den Kirchenmitgliedern bezeichnet sich laut einer Studie die Hälfte als »nicht-religiös«. Und nur 5 Prozent der Deutschen praktizieren ihren Glauben insofern, als sie mindestens einmal im Monat ein Gotteshaus aufsuchen. Anders gesagt sind 94 Prozent der Katholiken und 98 Prozent der Protestanten im Wesentlichen Karteileichen. Es gibt in Deutschland mehr Menschen, die Golf spielen, als Kirchgänger.
Der neue Atheismus war platt, das neue Copium ist schwach
Parallel zu diesem Funktionsverlust der Religion scheint auch die Religionskritik zu verfallen. Ihr letztes Aufbäumen, der »neue Atheismus« von Autoren wie Richard Dawkins und Christopher Hitchens, die zu Beginn des Jahrtausends populär waren, klingt heute nicht nur deshalb noch schaler und billiger als damals, weil einige der Protagonisten mittlerweile ins Lager neurechter Kulturkämpfer abgedriftet sind. Langweilig waren sie von Anfang an deshalb, weil sie zu ihrem Thema, der Religion, eigentlich nichts zu sagen hatten, das über eine verzerrte Karikatur hinausging. Sie prügelten auf ein Bild der Religion als blindem Glauben an ein fliegendes Spaghettimonster im Himmel ein, das sie sich selbst ausgedacht hatten.
In einer lustigen Rezension eines Dawkins-Buches schrieb der britische Marxist Terry Eagleton einmal: »Wenn auch vielleicht ohne weißen Rauschebart, stellt sich Dawkins Gott doch als eine Art übergroßen Kerl vor. Und fragt sich dann, wie es sein kann, dass dieser Kerl zu Milliarden von Menschen gleichzeitig sprechen kann. Das ist in etwa so, als würde man sich fragen: Wenn Tony Blair ein Oktopus ist, warum hat er dann nur zwei Arme?« Die intellektuelle Plattheit des »neuen Atheismus« macht verständlich, warum seine Nische in der Ökologie des Internets schon kurze Zeit später von kryptoreligiösen Reaktionären wie Jordan Peterson übernommen werden konnte.
»They paved paradise and put up a parking lot.«
– Joni Mitchell
Wo sich die aufklärerische Religionskritik von Feuerbach bis Freud brennend für die Religion interessiert hatte, weil sie diese als Spiegel tiefer anthropologischer Bedingungen, sozialer Kreativität und realer menschlicher Bedürfnisse verstand, geht es der kulturkämpferischen Verfallsform der Religionskritik nur noch darum, das Religiöse durch schneidende Rhetorik lächerlich zu machen. Man hat Spaß daran, sich über andere und über die Vergangenheit zu erheben, indem man ihr kulturelles Vokabular als etwas Albernes, Dummes und Zurückgebliebenes darstellt. Das bedeutet aber auch, dass diese Art der Religionskritik unfähig ist, säkulare Alternativen für all jene Formen der Gemeinschaft, des Denkens, Fragens und Hoffens zu entwickeln, die jahrtausendelang in der Religion einen Ausdruck gefunden hatten. Wenn die Kirche im Dorf schließt, an ihrer Stelle aber außer einem Parkplatz nichts Neues hinzukommt, dann bleibt an dem Ort, den die Religion einmal eingenommen hat, eine Leere.
Sozial und politisch wurde der gemeinschaftsstiftende Raum der Kirchen nicht ersetzt, sondern schlichtweg pulverisiert. Wo noch im 20. Jahrhundert, in den Worten Eric Hobsbawms, rivalisierende »Säkularreligionen« von Kommunismus und Sozialdemokratie bis hin zum Faschismus versuchten, die transzendentale Leere mit Heilsversprechen im Diesseits zu füllen (mitsamt ganz ähnlicher Pathologien wie sie zuvor der Glaube an kirchliche Autoritäten geboren hatte), versprechen heute selbst die wenigen verbliebenen emphatischen Ideologien – etwa der Nationalismus – nur noch deutlich abgedimmtere Formen kollektiver Sinngebung.
Das moderne »Copium« ist keines der Massen, sondern eines der Individuen in einem porösen und fragilen Sozialgefüge. Was bleibt sind Einzelne und Familien, Karrieren und mentale Gesundheit. Erfahrungen von Anomie, Beschleunigung und Entfremdung machen Menschen in unserer nicht nur säkularisierten, sondern auch individualisierten Gesellschaft weitestgehend mit sich selbst aus, oder allenfalls mit ihrer Kleinfamilie. Der Glaube wird infantilisiert, der Kindheit zugerechnet und verlacht, die Religion analog dazu einer primitiveren Gesellschaftsstufe zugeschrieben.
Der unbewältigte Teil der vermeintlich erwachsenen Denkweise blitzt dennoch immer wieder auf. Besonders in Grenzsituationen existenzieller Orientierungslosigkeit und Not, Krankheit, Depression, aber auch angesichts der wunderlichen Entgrenzungszustände der Liebe oder von Schwellenereignissen wie Geburt und Tod, zeigt sich vielen ein sprachloses Bedürfnis nach einem Verhältnis zum Transzendentalen. Dieses Bedürfnis scheint fortzuleben, auch wenn Gott empirisch gesehen tot ist.
Aus der Sehnsucht nach Transzendenz, die sich über Jahrtausende nach außen, gen Himmel richtete, wird ein Blick ins Innere, auf das Unbewusste und Unterdrückte. Statt Psalmen oder göttliche Omen, die nominell noch für alle galten, sind es nun die eigenen schwer greifbaren Träume und Traumata, die es zu dechiffrieren gilt. Im Wesentlichen liefert heute die Psychologie die Sprache und die Selbsttechniken für den Umgang mit diesen tiefergehenden Existenzerfahrungen. Sie wird begleitet von wissenschaftlich validierten, von Krankenkassen finanzierten Therapien und Kursen, einer millionenschweren Self-help-Industrie und einer auch in Deutschland jährlich steigenden Menge verschriebener Psychopharmaka. Die Anpassung dysfunktionaler Verhaltensweisen, Resilienz und Bewältigungstechniken haben den Raum eingenommen, den einmal Schuld, Geißelung und Gewissensprüfung, Stoßseufzer, Beichte und Gebet innehatten.
Wenn Religion hier noch eine Rolle spielt, dann eine reproduktive, Wellness-artige. Was bleibt, ist ein Kaufhaus religiöser Halbfertigteile, das für spezifische Lebenslagen und -abschnitte die passenden Module zur individuellen Freizeitgestaltung im Regal hat. Auch Yoga, Meditation, Rave oder Stadion zielen schließlich auf Gefühle der ultimativen Bezogenheit und Selbstüberwindung, wenn auch ohne Vermittlung durch Theologie, Bekenntnis oder Überlieferung.
Weil diese Ad-hoc-Rituale aber ganz auf die Gefühlszustände des Einzelnen bezogen sind, schwanken sie auch mit ihnen. Spirituell ist man, wenn man am Lagerfeuer in den Sternenhimmel schaut oder kleine Mengen Froschgift in einem Dschungel zu sich nimmt, aber nicht während man zur Arbeit pendelt oder sich Gedanken über die Beförderung macht.
Der Kapitalismus stopft die transzendentale Leere mit Mythen
Oder sind es nicht doch gerade die Arbeit und der Erfolg, die heute den Platz der Religion eingenommen haben? Anders gesagt: Ist der Kapitalismus vielleicht selbst eine Religion geworden, die die Leere, die der Niedergang der Religion hinterlassen hat, mit neuen Mythen und einem eigenen Heilsversprechen stopft? Eben das war wohl die Annahme des Philosophen Walter Benjamin, als dieser in einer kleinen Notiz sinnierte: »Im Kapitalismus ist eine Religion zu erblicken, d.h. der Kapitalismus dient essentiell der Befriedigung derselben Sorgen, Qualen, Unruhen, auf die ehemals die so genannten Religionen Antwort gaben.«
Laut Benjamin ist der Kapitalismus »eine reine Kultreligion, vielleicht die extremste, die es je gegeben hat«. Denn bis auf den Glauben an den Utilitarismus verzichte er auf alle dogmatischen Sicherheiten und Theologien und kenne anders als seine Vorgänger keinerlei Pausen und Feiertage mehr, nur die unendliche Fortsetzung der Akkumulation. Die Transzendenz wird ersetzt durch das Versprechen einer sagenhaften Steigerung der Möglichkeiten im Diesseits – von der Verdammung zu ewiger Verschuldung bis zur Verheißung absoluten Reichtums auf Erden. Das ist zwar keine Erlösung, aber immerhin etwas.
In Antike oder Feudalismus wusste noch jeder Bauer, wie viel Korn, Früchte oder Milch er, die Familie und der Hof produziert haben und wie groß der Zehnt war, den er an die Kirche abzuführen hatte. Im Vergleich dazu ist die Produktion von Wert und das Abziehen von Mehrwert heute viel schwieriger zu durchblicken – zumal es nicht um einen simplen Naturalienraub geht, sondern um in Geld umgerechnete Abstraktion von Arbeit in einem viel komplexeren Wirtschaftssystem. Eine Person im Betrieb kriegt einen Stundenlohn, ausbezahlt als Monatslohn. Aber selten weiß sie genau, ab welcher Stunde, ab welchem Tag eigentlich ihre unbezahlte Arbeit beginnt, die das Unternehmen einbehält.
Auch die Kapitalseite hat einer Hand zu folgen, die laut Adam Smith nicht sichtbar ist. Folgt man dem Soziologen Christoph Deutschmann, dann ist der »sich verwertende Wert als prozessuale Einheit des Geldes« – in all seinen Mystifikationen – »die Religion der modernen Gesellschaft«. Die Verwertung von Kapital durch Arbeit ist »so unsichtbar und unerforschlich wie der Gott der protestantischen Ethik«, weshalb der Kapitalismus ebenso wie die Religionen für seine Deutung und Auslegung stets auf Propheten, Priester und heilige Schriften, also Wissenschaftlerinnen, Gurus und Lehrbücher, angewiesen ist.
Laut Deutschmann existieren vor allem drei Arten von Mythen, in denen der Kapitalismus religiöse Züge annimmt: Technikmythen, Organisationsmythen und Konsummythen. Als die Scharlatan-Firma Mars One 2012 bekannt gab, dass sie Freiwillige für einen One-Way-Flug zum Mars suchte, meldeten sich Zehntausende. Viele berichteten, sie wollten »Teil von etwas Größerem sein«. Nicht anders verhält es sich im Grunde bei den Mars-Kolonisierungsfantasien eines Elon Musk und seines Unternehmens SpaceX, dem Traum von kommerzieller, nicht-staatlicher Raumfahrt, die auf das Verwerten der Lebensmüdigkeit jener setzt, die hier auf dieser Erde nichts mehr hält. Technikmythen simulieren den passiven Zuschauern übermenschliche Handlungsfähigkeit, indem ihnen erlaubt wird, sich mit dem in der Technologie verdichteten Expansionsdrall des Kapitals zu identifizieren. Der Kapitalismus verkauft den Menschen ihre eigene Entfremdung als Vision.
Organisationsmythen sind abstrakter und schwieriger zu fassen, obwohl sie unser Leben auf allen Ebenen prägen: Sie reichen von der falschen Moralisierung von Staatsausgaben in Form der Schuldenbremse zu Management-Idealen »schlanker Prozesse« oder der Verklärung betriebswirtschaftlicher Effizienzsteigerung zum »Spirit« eines Unternehmens. Der Philosoph Gilles Deleuze bemerkte einmal lakonisch: »Man lehrt uns heute, dass Unternehmen eine Seele haben. Das ist die schrecklichste Nachricht der Welt.«
»Ich werde so 160 Jahre alt werden und ich werde Teil dieser, nunja, Klasse von unsterblichen Overlords sein. Gebt uns Milliardären noch hundert Jahre und ihr werdet sehen, wie Vermögensungleichheit aussieht.«
– Sean Parker, Facebook
Vielleicht die offensichtlichsten kapitalistischen Mythen sind die Konsummythen. Sie basieren darauf, dass in einer profitgetriebenen Wirtschaft die Konsumnachfrage nicht den Bedürfnissen folgt, sondern die Bedürfnisse im Gegenteil durch Unternehmen aktiv hergestellt werden. Marketing ist die Kunst, einen ewigen Hunger aufrechtzuerhalten und größtmöglich zu skalieren. Mit dem Versprechen von Glück und Erfüllung durch Konsum wird zugleich eine Sozialpsychologie von Angst und Gier kultiviert, die auf das Gefühl von FOMO (»Fear of Missing Out«) setzt und von forcierten Übungen in Gelassenheit und Genügsamkeit flankiert wird. Institutionalisiert wird dies durch erfundene Konsumtage wie »Black Friday« oder »Cyber Monday« und die Umfunktionierung von Feiertagen wie Weihnachten zur umsatzstärksten Verkaufssaison, und auf die Völlerei folgen die Gutscheine für die kompensatorische Fitnesscenter-Mitgliedschaft oder das Retreat.
In der Realität verschränken sich die irdischen Technik-, Organisations- und Konsummythen natürlich. So wird beispielsweise das Versprechen ewigen Lebens vom Silicon Valley bis zu den Pharma-Labs säkularisiert, weil es einfach wortwörtlich genommen wird. Aus einer transzendentalen Sehnsucht wird ein hohles Gaming von Kennzahlen. So sagte der erste Präsident von Facebook, Sean Parker: »Ich werde so 160 Jahre alt werden und ich werde Teil dieser, nunja, Klasse von unsterblichen Overlords sein. […] Gebt uns Milliardären noch hundert Jahre und ihr werdet sehen, […] wie Vermögensungleichheit aussieht.« Wenn also das ewige Leben über kurz oder lang nur eine Frage des Geldes ist, während der Pöbel sterblich bleibt, dann braucht man als Milliardär-Overlord auch keine Angst vor einer Erbschaftssteuer haben, denn der Reichtum vermehrt sich einfach bis ans Ende aller Tage.
Was alle kapitalistischen Mythen gemeinsam haben, ist, dass sie kurzfristig durchaus Hoffnungen schüren und Menschen inspirieren können, letzten Endes aber zur Ernüchterung führen und deshalb eine geringe Halbwertszeit haben. Was einige Jahrzehnte noch als Frontier, als Wahrheit oder ultimatives Ziel galt, wird schnell verworfen und durch etwas Neues ersetzt. Ein Hype Cycle jagt den nächsten, die Unstetheit ist Teil des kapitalistischen Prinzips. Damit sind diese Mythen grundlegend instabil, sie stiften nicht nur selbst keine Gemeinschaft, sondern erodieren das Commitment, das es für eine expansivere kollektive Gestaltung eines Gemeinwesens bräuchte.
Wie sähe ein befreiteres Verhältnis zur Leere aus?
Auch weil der Kapitalismus und die säkularen Religionen unserer Zeit nicht in der Lage sind, die Leere zu füllen, die der Niedergang des organisierten Glaubens hinterlassen hat, ist die religiöse Frage nicht begraben. Der linken Religionskritik früherer Zeiten war es darum gegangen, die herrschaftsförmigen Verzerrungen des religiösen Weltbezugs zu beseitigen, um einer befreiteren, weniger entfremdeten Form des gesellschaftlichen Lebens den Boden zu bereiten. Marxistinnen verbanden mit dem Ende der religiösen Hegemonie die Hoffnung, die Menschen würden die Welt mit »nüchternen Augen« als das betrachten, was sie ist: etwas von Menschen Geschaffenes, also auch etwas, das menschlicher eingerichtet werden kann.
In der säkularisierten Welt unserer Tage bleibt dort, wo die Religion einmal war, auch deshalb eine Lücke, weil die reale Abschaffung der Religion dieses Befreiungsversprechen in entscheidender Hinsicht nicht eingelöst hat. Stattdessen sind vor dem Hintergrund eines leeren Himmels neue Formen der Knechtung, Vereinzelung, Passivierung und Entfremdung entstanden. Der Kapitalismus hat seine eigenen Formen der Mystifikation ausgebildet und potenziert – nicht als organisierte Religion mit expliziten Dogmen, sondern als ebenso flüchtige wie hohle Mythen, als panische Arbeit am Selbst und als normative Macht ökonomischen Zwangs ohne vorstellbare Alternativen, die Mark Fisher den »kapitalistischen Realismus« nannte.
Gerade um die gedankliche Unübersteigbarkeit dieser Verhältnisse zu überwinden, braucht es auch heute Religionskritik – oder zumindest eine Neuaneignung einiger ihrer Werkzeuge. Damit sind weder die heroisch gen Himmel gerichteten Maschinengewehre bolschewistischer Volkskommissare gemeint, noch zynisch-individualisiertes Durchblickertum zur Belehrung vermeintlich Verblendeter. Eine aufgeklärte Religionskritik sollte stattdessen zum Verstehenwollen und zum Nachfühlen jener vielfältigen religiösen Impulse zurückkehren, die auch in unserer Welt weiter lebendig sind, und zwar gerade auch dann, wenn das Ziel ein säkulares ist.
Ausgangspunkt sollte die Erkenntnis sein, dass das Imaginäre ein unumstößlicher Aspekt der Realität ist, der Standpunkt des Glaubens also nicht grundsätzlich voraussetzungsreicher ist als der des Nichtglaubens. In Slavoj Žižeks Worten: »Was einem Zyniker, der nur ›seinen Augen‹ traut, entgeht, ist die Wirksamkeit der symbolischen Fiktion, die Art und Weise, in der diese Fiktion unsere Erfahrung der Realität strukturiert«. Anders gesagt: Auch das säkulare Weltbild ist nie nur auf Fakten und Rationalität aufgebaut, sondern enthält eine endlose Zahl von nicht letztlich begründbaren Setzungen – vom Glauben daran, dass das Leiden und Gedeihen anderer Menschen mich etwas angeht, bis zur Annahme, dass andere Menschen ein eigenes gedankliches Innenleben haben, auch wenn ich dieses nie beobachten kann.
Kim Stanley Robinson illustriert einen ähnlichen Punkt, wenn er sagt: »Wenn man Ideologie als ein imaginäres Verhältnis zur realen Situation betrachtet, erkennt man, dass sie ein notwendiges Attribut des menschlichen Geistes ist. Man braucht sie. Wenn man keine Ideologie hätte, wäre das eine Behinderung […]. Man muss sie haben! Und als jemand, der sein ganzes Leben lang eine Brille getragen hat, kommt mir oft die Metapher in den Sinn, dass deine Ideologie wie deine Brille ist. Sie formt das, was herein kommt, sie kann blinde Flecken und Scheuklappen haben. Aber man kann sie auch schärfen und so ihre Dynamik verändern.«
In unserem kollektiven Versuch, die falschen Mythen des Kapitalismus von unseren Brillengläsern zu putzen, ohne uns in ein von Menschen erfundenes Jenseits zu flüchten, können wir auch von der religiösen Tradition und Praxis der vielen Generationen lernen, die vor uns kamen und das, was sie in der Welt sahen, in religiösen Sprachen ausdrückten. Christliche Ideen der Erlösung und persönlichen Beziehung zum Transzendenten, der Gleichheit aller Menschen vor Gott und der Liebe und Menschenfreundlichkeit als geheimes moralisches Gesetz der Welt beispielsweise sind eine mächtige Ideologie, von der unsere Kultur und auch das linke Denken bis heute mehr zehrt als es weiß.
Zudem hatte und hat religiöse Vergesellschaftung nie nur die vertikale Dimension von Hierarchie und Herrschaft, sondern immer auch eine horizontale Dimension von Gemeinschaft und Egalität. In all dem steckt eine warme Seite der religiösen Tradition, in der genuine menschliche Bedürfnisse aufscheinen: Sei es das Bedürfnis nach Gemeinschaft und einer Überwindung enger Selbstbezogenheit, sei es das nach einer transzendentalen Stabilisierung des eigenen Lebens, nach einer Bejahung des Einzelnen und seiner Einfügung in einen größeren Sinnbezug, oder das Suchen nach etwas, das meine unbedingte Hingabe verdient (und insofern heilig ist).
Diese und andere Bedürfnisse variieren von Mensch zu Mensch, liegen aber auf der Hand. Die Frage ist nur, wer sie erfüllt und ob sie überhaupt erfüllt werden. Vom Manifestieren als Weg zu Reichtum und Erfolg bis zu fundamentalistischen Hassgemeinschaften der Chatforen ist unsere Welt voll mit falschen Antworten auf reale Bedürfnisse. Wir hängen gewissermaßen zwischen Baum und Borke: Wir haben die genuin religiösen Antworten verlernt, aber sie mit schlechten, instabilen, unbefriedigenden Alternativen ersetzt. Um die daraus resultierende Leere zu überwinden, müsste hier der zweite Schritt der Religionskritik ansetzen. Nach der Befreiung von der Religion müsste die Befreiung hin zu einem anderen Leben beginnen.