Deutschland könnte polarisierter sein

JACOBIN. Der Bestseller »Triggerpunkte« zeigt auf: Der Schein eines polarisierten Deutschlands trügt. Warum das nicht automatisch eine gute Nachricht ist und was die Studie für sozialistische Politik bedeutet, erklärt Co-Autor Linus Westheuser im Gespräch.

Mit ihrer umfassenden soziologischen Studie Triggerpunkte liefern die Soziologen Steffen Mau, Thomas Lux und Linus Westheuser eine neue Analyse dieser verfahrenen Konfliktlandschaft. Entgegen der herkömmlichen Behauptung einer Polarisierung zwischen links und rechts diagnostizieren sie einen breiten gesellschaftlichen Konsens und eine Tendenz zur Mitte in den meisten relevanten Fragen. Das falsche Bild einer gespaltenen Gesellschaft, so die These, entsteht vielmehr durch die politische und mediale Überbelichtung einiger sehr spezifischer Debatten.

Linus Westheuser sprach mit Niklas Kullick für JACOBIN über Mobilisierung und Klasse, politischen Kampf und die Lehren der Studie für ein sozialistisches Projekt.

Euer Buch ist der Versuch einer »360-Grad-Vermessung« politischer Konflikte, wie es im Verlagsprogramm heißt. Worauf zielt Ihr mit dieser Herangehensweise?

Unser Ziel ist es, eine Karte der deutschen Konfliktlandschaft anzubieten. Also aufzuschlüsseln, worum in unserer Gesellschaft gerungen wird und wie. Die meisten Bücher zu Konflikten der Gegenwart reiten auf einer These: »Echokammern schüren den Hass«, oder »die Wokeness zerstört unser Gemeinwesen« oder sowas. Um diese These herum gruppiert man dann passende Befunde.

Wir sind bewusst offener herangegangen. Wir haben einige gängige Annahmen der Gegenwartsdiagnose hergenommen: zum Beispiel die, dass die Gesellschaft sich zunehmend polarisiert, oder die, dass an der Frage des Genderns ein konservatives und ein liberales Lager aufeinanderprallen. Und dann haben wir Daten ausgewertet, die zeigen können, ob das denn wirklich so ist. Über weite Strecken ist unser Buch deshalb eher beschreibend und überlässt die Bewertung den Leserinnen und Lesern. Im Idealfall funktioniert das Buch wie eine Art Aussichtsplattform, von der aus man die Meinungslandschaft in ihren größeren Zügen überblicken kann.

Wir sind außerdem eher an Widersprüchlichkeiten interessiert als an Pauschalisierung. So sehen wir zum Beispiel recht deutlich, dass es keine zunehmende Polarisierung der Meinungen über die Zeit gegeben hat. Unter den Deutschen herrscht ein großer Drang zur Mitte vor. Und dennoch glaubt eine große Mehrheit, dass außer ihnen selbst alle immer polarisierter werden. Warum ist das so?