Interview mit David Will, DIE ZEIT. 23.05.2025. Hat die SPD die Arbeiter verloren, weil sie zu viel über das Bürgergeld redet? Unsinn, findet der Soziologe Linus Westheuser. Die SPD brauche ein völlig anderes Konzept.
Die Partei der Arbeiter? Diesen Charakter habe die SPD verloren, sagt selbst ihr Parteichef Lars Klingbeil. Und will das ändern. Der Soziologe Linus Westheuser forscht zur Bedeutung von Arbeit und Klasse für die Sozialdemokratie. Er sagt: Mit Identitätspolitik für Arbeiter könne das nicht gelingen. Die SPD müsse sich wieder mehr Klassenkampf trauen.
ZEIT ONLINE: Herr Westheuser, der SPD ist der Charakter als Partei der Arbeit abhandengekommen – das sagt zumindest der SPD-Vorsitzende und Vizekanzler Lars Klingbeil. Hat er recht?
Linus Westheuser: Ja, die SPD hat ihr Profil als politische Interessenvertretung der Arbeitenden verloren. Der Schaden für die SPD, der durch diesen Profilverlust entstanden ist, geht aber weit über dieses Milieu hinaus. Denn: Das sozialdemokratische Projekt wurde nie nur von der Arbeiterklasse getragen. Wir sprechen hier von einer größeren elektoralen Konstellation, die auch eine progressive Mittelklasse umfasste, die rund um den Wohlfahrtsstaat entstand: Lehrerinnen, Sozialarbeiter, Pflegerinnen und so weiter. In den letzten Jahrzehnten hat die SPD auf beiden Seiten verloren, die Mittelklasse in Richtung der Grünen, die Arbeiter in die Demobilisierung und zum Teil an die AfD. Allerdings führt der Weg hier selten direkt von Mitte-links nach ganz rechts. Es ist vielmehr so, dass die SPD-affinen Teile der Arbeiterschaft irgendwann nicht mehr wählen gegangen sind und auch nichts mehr nachwuchs, wo die Älteren gestorben sind. Gleichzeitig haben rechtsradikale Parteien es geschafft, den Teil der Arbeiterklasse, der für Ressentiment und Chauvinismus ansprechbar ist, massiv zu mobilisieren.
ZEIT ONLINE: Warum dringt die SPD nicht mehr durch?
Westheuser: Vielleicht, weil ihr politisches Grundmodell nicht mehr zur heutigen Zeit passt. Dieses Modell basierte darauf, durch Wachstum, Wohlfahrt und steigende Löhne für mehr soziale Gerechtigkeit zu sorgen, ohne sich dafür aber mit den Interessen der Unternehmenseigentümer anzulegen. Spätestens seit den Fünfzigerjahren wollte die Sozialdemokratie mit dem Klassenkampf nichts mehr zu tun haben. Aber sie hatte trotzdem ein emanzipatives Projekt: die Menschen über kollektive Institutionen der Absicherung und Daseinsfürsorge von Angst und Zwang zu befreien. Dieses Projekt war enorm erfolgreich. Ohne Konflikte funktionierte es aber nur in Zeiten hohen Wachstums, weil genug für alle da war, für Profite ebenso wie für Umverteilung. Aber in der heutigen Ära der Dauerkrise und des anhaltenden Niedrigwachstums kommt es wieder zu heftigen Verteilungskonflikten. Das könnte eigentlich eine Chance für die SPD sein, wenn ihr nicht das politische Vokabular für diese Konflikte fehlen würde. Sie müsste bereit sein, sich mit den ökonomischen Eliten anzulegen. Das traut sich die SPD aber nicht und das spüren die Leute.
ZEIT ONLINE: Was meinen Sie damit?