Interview mit Lea Elsässer und Linus Westheuser, geführt von Jens Bisky, Soziopolis:
Leute ohne akademischen Hintergrund sitzen kaum noch mit am Tisch
Ein Gespräch mit Lea Elsässer und Linus Westheuser über politische Ungleichheit und die soziale Krise des Parteiensystems
Die AfD habe sich als „Arbeiterpartei“ etabliert, hieß es in ersten Analysen nach den Landtagswahlen im vergangenen Herbst in Thüringen, Sachsen und Brandenburg. Diese Partei sei ein „Feind der Beschäftigten“ warnt unterdessen der Deutsche Gewerkschaftsbund. Derlei Zuschreibungen werden zu Argumenten im Wahlkampf, oft wiederholt, gern geglaubt. Man kann darauf wetten, dass sie auch nach der bevorstehenden Bundestagswahl im Februar 2025 zur Deutung der Ergebnisse herangezogen werden. Wie aber hängen Verteilungskonflikte, die Wahrnehmung von Ungerechtigkeiten und der eigenen sozialen Position tatsächlich mit dem Wahlverhalten zusammen? Welche Rolle spielt so etwas wie Klassenbewusstsein? Über die soziale Krise des Parteiensystems haben wir mit der Politikwissenschaftlerin Lea Elsässer und dem Soziologen Linus Westheuser gesprochen.
Herr Westheuser, Sie sprachen jüngst in einem Artikel von einer „sozialen Krise des Parteiensystems“. Über eine Krise des Parteiensystems wird so lange schon gesprochen, wie ich zurückdenken kann. Auch die Erosion der Volksparteien wird seit Jahrzehnten beklagt. Wie sieht es gegenwärtig aus? Ist die Gründung etwa des BSW ein Krisensymptom oder vielmehr ein Zeichen von Vitalität?
Linus Westheuser: Die Krise des Parteiensystems ist natürlich älter, aber gegenwärtig mehren sich spürbar die morbiden Symptome. Im Inneren des Parteiensystems kommt es zu einer Fragmentierung und zum Auftreten neuer „challengers“, also anti-systemischer Herausforderer-Parteien wie der AfD. Nach außen erodiert zugleich die Fähigkeit der Parteien, Bürger:innen an sich zu binden und als Vermittlerinnen zwischen Staat und Gesellschaft zu fungieren. Eine neue, hitzige Form der Politisierung und eine schleichende Entpolitisierung breiter Bevölkerungsteile gehen so auf eigentümliche Weise Hand in Hand. Von einer sozialen Krise kann man sprechen, weil beide Prozesse gesellschaftlich ungleich ablaufen. Man sah das beispielsweise daran, dass bei der Europawahl 2024 die Volks- und Regierungsparteien besonders geringe Zustimmung unter jenen Leuten fanden, die sich selber als „Arbeiter:innen“ einordneten oder angaben, einen niedrigen Lebensstandard zu haben. Während die Volksparteien in der Gesamtbevölkerung knapp die Hälfte der Stimmen auf sich vereinen konnten, waren es unter Arbeiter:innen und Geringverdiener:innen nur 30 Prozent. Die Ampelparteien erreichten in diesen Gruppen nur 20 Prozent der Stimmen, deutlich weniger als die AfD, die in beiden Gruppen reüssierte. Der rechte Rand erstarkt also, während das Zentrum des Parteiensystems geschwächt wird. Zugleich sehen wir eine Erosion der Parteibindungen und des Vertrauens in politische Institutionen. All diese Prozesse sind in der unteren Hälfte der sozialen Hierarchie, speziell in der Arbeiterklasse, besonders ausgeprägt. Hier ist die Abkehr vom politischen System am weitesten fortgeschritten, und hier sind auch Herausforderer-Parteien wie AfD oder BSW am stärksten.
Lea Elsässer: Schaut man nur darauf, mit wie viel Prozent Parteien bei Wahlen abgeschnitten haben, wird oft nicht bedacht, wer überhaupt daran teilgenommen hat – wer also überhaupt noch am politischen Prozess partizipiert. Die Verschiebung der Wählerstimmen lässt sich nicht vernünftig analysieren, ohne die Nicht-Wähler:innen mit einzubeziehen. In vielen Ländern steigt deren Zahl. Immer mehr Leute gehen gar nicht mehr zur Wahl – und das ist besonders in den unteren Klassen und Einkommensgruppen ausgeprägt. Daher geht die Schere in der politischen Partizipation insgesamt auseinander. Fragen wir Leute, wie gut sie sich repräsentiert fühlen, können wir diese soziale Kluft deutlich erkennen. Die ökonomisch Schlechtergestellten fühlen sich auch politisch schlecht oder gar nicht repräsentiert. Die Ausdifferenzierung des Parteiensystems geht mit dem Rückzug vieler aus dem politischen System einher, gerade in den weniger privilegierten Gruppen.
Schaffen es nicht gerade die Anti-System-Parteien, Leute, die sich vorher – aus welchen Gründen auch immer – zurückgezogen haben, wieder politisch zu mobilisieren und wieder zur Wahlteilnahme zu bewegen?
Lea Elsässer: Das ist eines der verkürzten, oft gehörten Narrative. Aber es stimmt so nicht. Bei einigen Wahlen ließ sich beobachten, dass radikal rechte Parteien frühere Nicht-Wähler:innen mobilisiert haben, bei anderen Wahlen nicht. Feststellen können wir, dass eine Polarisierung von Wahlkämpfen – also wenn die Menschen das Gefühl haben, es gehe bei einer Wahl um ganz viel – die Wahlteilnahme insgesamt erhöht. Davon profitieren jedoch unterschiedliche Parteien. Bei der letzten Bundestagswahl hat nicht die AfD besonders viele Nicht-Wähler:innen mobilisieren können, sondern die SPD. In dem verkürzten Argument, Anti-System-Parteien profitierten in besonderem Maße von der Mobilisierung von Nichtwähler:innen, liegt auch eine große Gefahr – zumindest dann, wenn man daraus die Schlussfolgerung zieht: besser sie wählen gar nicht, als sie wählen rechts. Damit entlässt man Gesellschaft und Politik aus der Verantwortung, genau nachzufragen, warum sich diese Leute vom politischen Betrieb abgewendet haben.
Linus Westheuser: Zu fragen wäre auch, als was diese Wähler:innen mobilisiert werden. Klassischerweise sind demokratische Rechte ja nicht nur dazu da, alle paar Jahre mal Dampf abzulassen. Stattdessen sollen sie weniger privilegierten Gruppen eine Form organisierter Macht verschaffen, die sie aufgrund ihrer ökonomischen Position nicht hätten, und damit ein Korrektiv für die Ungleichheit bilden, die dem Kapitalismus inhärent ist. Genau diese Form der Macht bilden rechtsradikale Parteien aber nicht aus. Sie mobilisieren die Leute über ihre Ressentiments und über horizontale Anspruchskonkurrenzen zwischen Gruppen. Aber sie konstituieren die Benachteiligten nicht zu einer Gruppe, die imstande wäre, ihre eigenen Interessen durchzusetzen.