Auf den Seiten der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie setzte sich ein illustrer Kreis von Soziolog:innen kritisch mit unserem Buch “Triggerpunkte” auseinander. Auf Rezensionen von Stephan Lessenich, Stefan Liebig, Armin Nassehi und Irmhild Saake reagierten wir mit einer Replik, die einige Kernthesen des Buches zusammenfasst und Missverständnisse geraderückt.
Wir betonen darin,
»dass unser Buch keineswegs als „Beruhigungspille“ verstanden werden sollte (siehe z. B. Lux 2024). Wenn wir die Modediagnose der gesellschaftlichen Polarisierung zurückweisen, so geht es uns nicht darum, zu sagen, dass „alles halb so wild“ ist oder dass es müßig sei, sich Sorgen zu machen über das Erstarken des Rechtsextremismus, die Klimakatastrophe, grassierende Intoleranz und Armut oder über das, was wir im Buch die „Allmählichkeitsschäden“ am Fundament der Demokratie nennen. Worum es unserem Buch stattdessen geht, ist ein Perspektivwechsel, der es ermöglicht, aus einem besonders festgefahrenen und unergiebigen Diskurs der letzten Jahre auszusteigen und zu einem komplexeren Bild gegenwärtiger gesellschaftlicher Konflikte zu kommen. Um einige Missverständnisse geradezurücken, die uns in Rückmeldungen zu unserem Buch immer wieder begegnet sind, wollen wir hier drei Aspekte dieses Perspektivwechsels noch einmal kurz skizzieren:
Erstens verschieben wir den Fokus von einem vermeintlichen Zusammenstoß ideologischer Großlager hin zu den Meinungsverschiedenheiten innerhalb einer breiten gesellschaftlichen Mitte, deren Meinungen relativ entideologisiert, volatil und oft auch widersprüchlich sind. Anders als die meisten Untersuchungen gilt unser Hauptinteresse nicht den politischen Extremen und entschiedenen Parteigängern, sondern denen, die man im angelsächsischen Raum „median voters“ nennt: die „Durchschnittsdeutschen“, in deren Brust oft mehrere Herzen schlagen. Sie haben sich mit der Einwanderungsgesellschaft arrangiert und reagieren zugleich allergisch auf gefühlte Kontrollverluste an der Grenze. Sie üben sich in permissiver Toleranz, blicken aber eher skeptisch auf eine Reform von Alltagspraktiken wie Sprache oder Ernährung. Sie wollen Klimaschutz und niedrige Spritpreise; öffentliche Investitionen, Umverteilung und niedrige Steuern. Was unser Buch so leisten will, ist eine politische Soziologie des „Ja, aber …“, die beide Seiten dieser Kippbilder registriert, ohne eine zu verabsolutieren. So wird sichtbar, dass sich oft eher situativ entscheidet, ob „Ja“ oder „Aber“ überwiegt – und dass Bauchgefühle dabei oft zentraler sind als konsistente und ideologisch ausgehärtete Weltbilder. Für Triggerthemen und Affektpolitik sind auch die empfänglich, die sich sonst in kühler Abwägung üben, aus Reflex den Mittelweg wählen oder sich von allem fernhalten, was nach Politik und Konflikt riecht (Groenendyk et al. 2024). Mit unserer Perspektive optieren wir nicht normativ für die entideologisierte Mitte. Wir glauben aber, dass man das Land besser versteht, wenn man sie nicht übersieht, sondern, mitsamt ihrer Widersprüche, analytisch präzise erfasst.
Zweitens zeigen wir, dass sich aus den Konjunkturen der Parteipolitik nicht ohne Weiteres auf einen Wandel der darunterliegenden Einstellungen in der Bevölkerung schließen lässt. Es kann, wie derzeit zu beobachten, zu einer formidablen politischen Radikalisierung am rechten Rand oder einer Rechtsverschiebung des politischen Diskurses als Ganzem kommen, ohne dass das anzeigt, dass sich an den grundlegenden Einstellungen der Bürgerinnen und Bürger etwas geändert hat (siehe auch Danieli et al. 2022). Ein Kernbefund unseres Buches lautet, dass viele Konflikte „von oben“ durch interessierte politische Akteure gemacht, inszeniert und bewirtschaftet werden. Es ist eben nicht so, wie viele Akteure selbst, aber auch einige Kolleginnen und Kollegen behaupten, dass es eine gleichsam vorpolitische Spaltung der Gesellschaft gibt, die im politischen Konfliktraum nur gespiegelt wird. Wo es eine Polarisierung in den Einstellungen gibt, ist sie meist ein Ergebnis vorgängiger Politisierung, nicht umgekehrt (Simon et al. 2019; Dochow-Sondershaus und Teney 2024). Das bedeutet zwar im Umkehrschluss nicht, dass die Gesellschaft eine strukturlose Masse ist, die durch politische Akteure beliebig bespielt werden kann. Doch strukturierte Interessen und standortgebundene gesellschaftspolitische Orientierungen sind weit von dem entfernt, was man sich unter einer neuen Klassenspaltung, einem „tiefen Graben“ oder einem gesellschaftlichen „Kulturkampf“ vorzustellen hätte. Es ist deshalb ebenso verlockend wie falsch, von Parteienkonflikten, wie jenem zwischen AfD und Grünen, direkt auf soziale Konflikte, wie dem zwischen alter Arbeiter- und neuer Mittelklasse, zu schließen, wie dies in öffentlichen Debatten nach 2016 häufig geschah. Wollen wir Politisierung verstehen, müssen wir politische Akteure in den Blick nehmen. Interessiert uns dagegen das soziale Substrat politischer Einstellungen, dann müssen wir uns auf Formen des Alltagsverstands und der Alltagsmoral einlassen, mittels derer Meinungen ganz anders artikuliert werden als in den Programmen der Parteien (beispielsweise viel weniger ideologisch und sauber gebündelt, s. Damhuis und Westheuser 2024; Beck und Westheuser 2022).
Drittens überwinden wir mit dem Blick auf vier Arenen der Ungleichheitskonflikte sowohl die sterile Gegenüberstellung von Verteilungs- und Identitätspolitik als auch die übermäßige Vereinfachung, mit der man von Ökologie und Migration bis Wokeness alle möglichen Themen im großen Kessel des „Kulturkampfs“ verrührt. Es zeigt sich, dass mehr als zwei Drittel der Deutschen „Mischtypen“ sind, die sich nicht in die Schubladen des Kulturkampfs einsortieren lassen, weil sie sich beispielsweise in Migrationsfragen mittig, in Diversitätsfragen liberal, in Klimafragen aber konservativ positionieren. Jede unserer vier Konfliktarenen hat eine Eigenlogik, eine spezifische Geschichte und ein eigenes Set moralischer Repertoires, die gesondert betrachtet werden müssen, wenn man die Konflikte der Gegenwartsgesellschaft verstehen will. Die Interaktion zwischen diesen Einzelkonflikten wiederum gestaltet sich komplizierter als es das gängige zweidimensionale Schema von Ökonomie versus Kultur nahelegt. Nach unserem Dafürhalten versteht man alle von uns behandelten Konflikte – auch die der „Identitätspolitik“ – besser, wenn man sie zumindest auch als Ringen um ungleich verteilte soziale Güter versteht. Zudem blitzen in Konflikten um Migration, Klima und Diversität allenthalben die verdrängten Verteilungskämpfe der „demobilisierten Klassengesellschaft“ auf. Umgekehrt sind „immaterielle“ Fragen der Anerkennung, Verdientheit und des Respekts für Arbeit und gesellschaftliche Stellung ebenso in der verteilungspolitischen Oben-Unten-Arena zentral. Auch in dieser Hinsicht besteht unser Perspektivwechsel also nicht darin, Konflikte zu leugnen, sondern anzudeuten, wie man diese Konflikte genauer fassen kann, wenn man sich von Diskursschablonen löst.«