Interview zur Bürgergeld-Debatte

FOCUS, Interview von Lara Wernig.

Der Soziologe Linus Westheuser erklärt, warum das Thema Bürgergeld viele Menschen aufwühlt, wie Vorstellungen von „verdient“ und „unverdient“ die
Debatte prägen und wieso der Sozialstaat in Verruf geraten ist.

Herr Westheuser, warum ruft das Thema Bürgergeld bei vielen
Menschen starke emotionale Reaktionen hervor?

Das ist ein Thema, das sehr an moralische Einstellungen rührt, etwa zu Fragen von Fairness, Leistung und Gerechtigkeit. Der Sozialstaat ist auch eine in Institutionen gegossene Vorstellung einer gerechten
Gesellschaft. In der Sozialpolitik wird deshalb immer viel mehr
verhandelt als rein technische Modalitäten. Es geht um moralische Fragen von Rechten und Pflichten, gutem und schlechtem Verhalten.
Man muss zudem auch immer daran erinnern, dass es sich um eine politisch fabrizierte Debatte handelt. Es gibt diese Debatte nur, weil sie von politischer Seite immer und immer wieder hochgeholt und scharf gemacht wird.


Welche moralischen Einstellungen meinen Sie konkret?


In der Soziologie sprechen wir von Deservingness, zu deutsch:
Verdienstlichkeit. Es geht um die Frage, wer was an staatlicher
Solidarität verdient. Dazu gibt es in der Bevölkerung Vorannahmen, die empirisch gut erforscht sind. Manchen gesellschaftlichen
Gruppen gönnt man den Bezug von Bürgergeld eher als anderen.


Welchen?


Zum Beispiel Gruppen, die nichts dafür können, dass sie bedürftig geworden sind. Oder denen man zuschreibt, vorher etwas geleistet zu haben, was ihre Ansprüche begründet. Aber auch die nationale Zugehörigkeit ist ein Kriterium, anhand dessen oft Verdienstlichkeit unterschieden wird. Manche Figuren, die in der öffentlichen Debatte gezeichnet werden, vereinen viele solcher Kriterien. Nehmen wir als Beispiel eine ältere Frau, die drei Kinder großgezogen hat, deshalb immer wieder in Teilzeit gearbeitet hat und Anspruch auf
Sozialleistungen hat. Das Gegenbeispiel ist ein junger Mann mit Migrationshintergrund, der Bürgergeld empfängt, weil er
vermeintlich nur „keine Lust hat“ zu arbeiten.

Die meisten würden wohl angeben, diese Frau hätte es mehr verdient, Leistungen zu erhalten als der Mann…


Genau. Die politische Frage ist, welche dieser Kategorien – verdient oder unverdient – den Fokus der Debatte bestimmt. Je nachdem, wie
Menschen sich die Gruppe der Empfänger vorstellen, fällt die
gesellschaftliche Reaktion darauf aus, wenn gekürzt oder
sanktioniert werden soll.


Lassen Sie mich raten: Bei den Debatten in Deutschland geraten derzeit Menschen in den Fokus, die bei vielen in die Kategorie unverdient fallen?


Ja. Trotzdem gibt es in Deutschland einen starken
Wohlfahrtskonsens in der Bevölkerung. Die große Mehrheit findet, dass es im Land ungerecht zugeht, und dass der Staat noch viel
stärker eingreift, um Menschen zum Beispiel vor Altersarmut zu
schützen. Aber dieser Konsens kann überdeckt werden, wenn
vermeintlich unverdiente Gruppen ins Zentrum der Debatte
geschoben werden. Dann überwiegt die moralische Empörung. Dann
fallen Sätze wie: „Nicht auf unsere Kosten…“

Solche Sätze fallen aber nicht erst seit Einführung des
Bürgergeldes, oder?

Nein, das ist ein altes politisches Muster. Schon spätestens ab den 70er Jahren wird der Sozialstaat permanent angegriffen, indem man
die Verdienstlichkeit von Leistungsempfängern in Frage stellt. So etwas wie Pioniere in dieser Hinsicht waren die Republikaner in den
USA, insbesondere Figuren wie Ronald Reagan.

Wie sind sie vorgegangen?

Sie haben versucht, den Wohlfahrtsstaat mit Menschen zu verbinden, die besonders unbeliebt sind oder als moralisch zweifelhaft gelten. So gab es etwa das Schlagwort der „Welfare Queen“, das Reagan ab den 70er Jahren etabliert hat. Er zeichnete das abwertende Bild einer armen Frau – implizit als Afroamerikanerin dargestellt – die mehrere Kinder hat, weil sie so Leistungen beziehen kann, ohne zu arbeiten. Ziel war es, den Wohlfahrtsstaat mit den am
wenigsten gesellschaftlich geachteten Gruppen zu assoziieren und dadurch als Ganzes zu diskreditieren.

Wer ist derzeit die deutsche „Welfare Queen“?

Das sind zum Beispiel die sogenannten Totalverweigerer. Dabei handelt es sich um eine verschwindend kleine Gruppe, die objektiv kein riesiges Problem darstellen. Doch sie rufen bei den Menschen
eine große moralische Ablehnung hervor und werden in den Debatten deshalb oft nach vorne gestellt. Schon Anfang der 2000er kreisten die Diskussionen um Figuren wie den Leistungsempfänger
„Florida Rolf“. Auch er stand für eine moralisch problematische
Kategorie und tauchte passend zu den Arbeitsmarktreformen in den Medien auf.

Aber ist es nicht legitim, der hartarbeitenden
Alleinerziehenden die staatliche Unterstützung mehr zu
gönnen als dem lustlosen Totalverweigerer?

Zunächst ist es wichtig, sich klarzumachen, dass die Idee des
lustlosen Totalverweigerers, der in Saus und Braus lebt, eine
politisch motivierte Fiktion ist. Jeder, der sich mit der Lebensrealität
von Leistungsempfängern beschäftigt hat, weiß, dass das Unsinn ist.
Aber insgesamt ist auch die Idee, dass man sich den Anspruch auf
Leistungen des Wohlfahrtsstaates verdient haben muss, überhaupt
nicht selbstverständlich. In universalistischen Wohlfahrtstaaten, wie
etwa in Skandinavien, werden Leistungen eher als ein soziales Recht verstanden. Jeder Staatsbürger hat das Recht auf Solidarität und soziale Infrastruktur, ähnlich wie er das Recht hat, von der Polizei
geschützt zu werden oder öffentliche Straßen zu nutzen. In
Deutschland haben wir dagegen eine sehr leistungszentrierte Sicht.