Beitrag: Populisten kennen die „Triggerpunkte“ der Gesellschaft und nutzen sie für ihre Zwecke

Freitag: Ob Heizungshammer oder Sozialtourismus – die Debatten werden hitzig geführt. Warum der Schein einer Spaltung der Gesellschaft dennoch trügt. von Linus Westheuser und Thomas Lux

Heizungshammer! Genderverbot! Sozialtourismus! Fast täglich schießt ein neuer Aufreger durch die Republik und sorgt für hitzige Debatten, Kopfschütteln und Wut. Der Empörungspegel steigt – und mit ihm die gefühlte Spaltung der Gesellschaft. Deutschland, so beschwören es einschlägige Diagnosen, gruppiert sich zum Kulturkampf: Gillamoos gegen Kreuzberg, Wokeness gegen Tradition. Auf der einen Seite diversitätsaffine Kosmopoliten, die im Bio-Markt shoppen und für offene Grenzen streiten. Auf der anderen Seite homophobe Kommunitaristen, die sich an die nationale Scholle klammern und stolz das Nackensteak auf den Grill klatschen.

Dieses Kulturkampf-Schema ist populär, weil es griffig ist und – wie alle Stereotype – eine gewisse Alltagsevidenz besitzt. Falsch ist es dennoch. Denn horcht man die deutsche Bevölkerung mit dem Instrumentarium der empirischen Sozialforschung ab, dann ist von Lagerbildung wenig zu erkennen. Ob bei Zuwanderung, Identitätspolitik, Verteilungskämpfen oder Klima – die Meinungen in der Bevölkerung sind in den letzten 30 Jahren nicht auseinandergedriftet. Und sie bilden auch keineswegs so sauber sortierte Pakete, wie es die oben genannten Karikaturen nahelegen. Beginnt man an einer Bushaltestelle ein Gespräch mit Fremden, so sind die Chancen gering, dass diese sich als entschiedene Rechtspopulisten oder linksliberale Ideologen entpuppen. Wahrscheinlicher ist ein Potpourri: starke Einzelmeinungen und abwinkendes Desinteresse, mittige Ja-aber-Positionierungen und diffuser Ärger.

Doch woher rührt dann die allgemeine Aufgeregtheit? Vom Spiel mit den Triggerpunkten. Auf der Basis von Umfragedaten und Diskussionsrunden zeigen wir in unserem Buch Triggerpunkte, dass die hitzige Geladenheit, mit der viele Debatten heute geführt werden, nicht bedeutet, dass sich in ihnen unversöhnliche ideologische Blöcke gegenüberstehen. Bei erstaunlich vielen Fragen herrscht breiter Konsens. Streit entzündet sich aber an Einzelaspekten, die moralische Grunderwartungen verletzen. So sind sich in unserer repräsentativen Umfrage 84 Prozent der Deutschen einig, dass Transpersonen als ganz normal anerkannt werden sollten. Doch der Vorschlag, in Berliner Schwimmbädern zwei Stunden Schwimmzeit für Transpersonen zu designieren, triggert viele heftig. „Was, wenn jetzt jede einzelne Community ankommt, die Fettleibigen und die Glatzköpfigen, und auch ihre eigenen Badezeiten will!“, ruft ein Diskutant irritiert.

Menschen gehen auch bei eher konsensuellen Themen an die Decke, wenn sie bestimmte rote Linien überschritten sehen. Etwa wenn sie Ungleichbehandlungen wahrnehmen – sei es durch Diskriminierung, sei es durch vermeintliche „Sonderrechte“. Oder wenn Ängste vor einem Kontrollverlust manifest werden, etwa im Zuge der Klimawandelfolgen oder immer neuer Ansprüche von Minderheiten. Zudem zeigen sich Menschen regelmäßig von Normalitätsverstößen und Verhaltenszumutungen getriggert, also Momenten, in denen geteilte Vorstellungen des Normalen und Angemessenen verletzt werden oder Menschen sich in der Autonomie ihrer Lebensführung eingeschränkt sehen. Wie ein anderer Teilnehmer es ausdrückt: „Ich bin ja für den Klimaschutz, aber ich möchte bitte auch weiterhin mein Stück Fleisch essen dürfen!“

Wer derzeitige politische Konflikte verstehen will, muss diese Triggerpunkte kennen. Denn diese Sollbruchstellen der Alltagsmoral sind es, die einer eher indifferenten, abwägenden, entideologisierten Mitte der Bevölkerung einheizen. Ein mächtiges Potenzial, das bespielt werden kann. So legen Polarisierungsunternehmer von Aiwanger bis Weidel den Finger gezielt auf Triggerpunkte, um die Stimmung aufzuheizen und Wählerstimmen zu generieren. Dabei besteht ihr Trick darin, vorzugaukeln, dass die durch exzessive Zuspitzung herausgekitzelte Empörung das Zeichen einer substanzielleren Uneinigkeit sei. Ein Diskurs, der jeden Konflikt als Ausweis gesellschaftlicher Spaltung betrachtet, fällt auf diesen Trick herein. Die Demokratie stärkt es, wenn reale Konflikte um Gerechtigkeit, Nachhaltigkeit und Zugehörigkeit sachlich-politisch ausgetragen werden – jenseits des kulturkämpferischen Triggertheaters.