Interview: Konfliktstoff in der Klassengesellschaft

mit Hannah Schurian:

»Wer demobilisiert ist, erlebt Politik nur als Spiel von Triggern.«

Luxemburg: Euer Buch widerspricht der These, dass sich unsere Gesellschaft in zwei politische Lager spaltet. Wenn das nicht so ist, warum ist die Polarisierungsthese dann so beliebt?

LINUS: Ich glaube, die Sorge vor Spaltung ist auch deshalb so groß, weil eine Reihe deutscher Leitideologien die Nicht-Spaltung insgeheim als Ideal voraussetzen. Da ist die konservative Idee von Gesellschaft als harmonischer und organischer Einheit und die liberale Fixierung auf den wohltemperierten Diskurs und das reibungslose Funktionieren der Institutionen. Beide sehen sich bedroht von Uneinigkeit und »extremen« Positionen, die sich nicht einhegen lassen. Hinzu kommt die wirkmächtige Erzählung, dass die Weimarer Republik an der Radikalität der politischen Ränder zugrunde gegangen sei. Darum erscheint Spaltung als ultimatives Schreckgespenst und macht gute Schlagzeilen. Die beliebteste Spaltungsdiagnose war zuletzt natürlich die eines neuen Kulturkampfs zwischen woken Eliten und konservativen Arbeitern, die aus den USA importiert wurde. Das ist zwar griffig, doch es hilft mit Blick auf Deutschland nicht weiter. Man muss genauer hinsehen.

Ihr untersucht die Konflikte in vier Arenen: im Feld der Migration, im Feld der Anerkennung bzw. »Identitätspolitik«, im Feld der Klimapolitik und schließlich der sozialen Ungleichheit, der Klassenfrage. Was zeigt sich dort?

Dass die Konflikte sozial nicht so schwarz-weiß strukturiert sind, wie es das Schema »progressive Mittelklasse versus konservative Arbeiterklasse« nahelegt. Tatsächlich sind die Unterschiede eher gradueller Natur und äußern sich eher darin, wie Angehörige verschiedener Klassen über politische Fragen reden. Es gibt auch in der Arbeiterklasse eine große Bandbreite der Einstellungen, selbst in Migrationsfragen, wo im Gros tatsächlich skeptische Haltungen überwiegen. Wirklich kohärente Weltbilder, in denen etwa eine progressive Haltung zur Migrationspolitik notwendig mit einer progressiven Haltung zu Genderfragen einhergeht, gibt es in allererster Linie unter den Gebildeten. Die Mehrheit hat eher inkohärentere Weltbilder und tritt relativ ad hoc an politische Einzelfragen heran. Hier sind moralische Intuitionen viel entscheidender als gefestigte Ideologien.

Eure These könnte leicht als eine Entwarnung verstanden werden: Ist doch gar nicht so schlimm mit dem Kulturkampf.

Es geht nicht um Entwarnung im Gesamtbild. Aber mit Blick auf die These eines brodelnden Kulturkampfs hilft uns eine gewisse Versachlichung, andere Handlungsmöglichkeiten zu eröffnen. Wenn ich an eine Zweiteilung der sozialen Gruppen glaube, verengt das die politischen Optionen ungemein: Will ich die Arbeiterklasse zurückgewinnen, dann muss ich gesellschaftspolitisch konservativ sein. Bin ich links, bleibe ich mit den Berliner Hipstern allein. Dieser Kurzschluss imaginiert sich gesellschaftspolitische Lager, wo eigentlich viel mehr Vielfalt ist. Es müsste stattdessen darum gehen, an welchen breiten Common Sense der Bevölkerung ich andocken kann. Und darum, welche Interessen, welche moralischen Intuitionen und welche Kritik es innerhalb der Arbeiterklasse gibt, die linke Politik für sie attraktiv machen kann. Man muss dabei ehrlich sein und auch sehen, dass Linke die Arbeiterklasse derzeit massiv verlieren. Aber Stereotype von einer rechten Arbeiterschaft, die der woken Mittelklasse gegenübersteht, naturalisieren diesen Zustand auf eine wenig hilfreiche Weise.