Interview: »Der Begriff der Arbeit wird gerade von rechts besetzt«

Der Verteilungskonflikt zwischen Oben und Unten spielt in aktuellen Debatten kaum eine Rolle, sagt der Soziologe Linus Westheuser. Daran sei nicht zuletzt die SPD schuld.

Interview: Robert Pausch, 01.02.2024

ZEIT ONLINE: Herr Westheuser, die politische Linke in Deutschland steht gerade vor einem Rätsel: Die Reallöhne in Deutschland sind in den letzten zwei Jahren so rasant gefallen wie in keinem anderen EU-Land, gleichzeitig haben die größten deutschen Unternehmen in den beiden zurückliegenden Quartalen Rekordgewinne eingefahren. Aber die einzige verteilungspolitische Debatte dreht sich derzeit um eine Erhöhung des Bürgergelds. Wie ist das zu erklären?

Linus Westheuser: Diese Diskussion ist ein Symptom für eine größere Tendenz, die wir beobachten: Der Verteilungskonflikt zwischen Oben und Unten, der die Politik lange Zeit prägte, ist heute gesellschaftlich demobilisiert. Es gibt zwar nach wie vor Interessengegensätze zwischen Besitzenden und Lohnabhängigen, Reichen und Armen. Aber politisch wird daraus ganz offenbar keine Energie mehr gewonnen. In der Bevölkerung gibt es eine starke Kritik an der wachsenden Ungleichheit, die aber kaum in politische Forderungen nach verstärkter Umverteilung übersetzt wird.

ZEIT ONLINE: Woran liegt das?

Westheuser: Im Hintergrund steht eine historische Schwäche von Gewerkschaften und linken Parteien. Beide Arten von Organisationen sind ja dafür da, denjenigen Machtressourcen an die Hand zu geben, die nicht über ein hohes Erbe oder ein florierendes Unternehmen verfügen. Sozialdemokratische Umverteilungspolitik galt lange als “demokratischer Klassenkampf”, als ein Ausbalancieren der Ungleichheit, die dem Kapitalismus innewohnt. Und Gewerkschaften gibt es, weil auch im Betrieb über Verteilungsfragen verhandelt wird, etwa das Verhältnis von Löhnen und Profiten. Wenn beide Institutionen heute geschwächt sind, gehen für viele Menschen Erfahrungen der Handlungsfähigkeit verloren.

ZEIT ONLINE: Was hat diese Schwäche damit zu tun, wie verteilungspolitische Debatten geführt werden?

Westheuser: Gerade in einer solchen Situation der Demobilisierung werden diese Debatten zunehmend von einer moralisierten Konkurrenz zwischen Lohnabhängigen dominiert. Menschen, die das Gefühl haben, ihre Leistung würde nicht honoriert, grenzen sich dann eher nach unten ab, von denen, die es vermeintlich leichter haben als man selbst.

ZEIT ONLINE: In einer aktuellen Umfrage des Allensbacher Instituts für Demoskopie stimmen in den unteren sozialen Schichten 67 Prozent der Befragten der Aussage zu, dass…