Rezension: Vom Generalgefühl der Überforderung

Claus Leggewie, soziopolis. Das Buch von Steffen Mau, Thomas Lux und Linus Westheuser (alle HU Berlin) könnte nostalgische Glückgefühle bewirken, dass damit (nach Ulrich Becks „Risikogesellschaft“) wohl wieder ein Bestseller vorliegt, der „nichts als Soziologie“ (René König) betreiben will und dafür das klassische Repertoire theoriegeleiteter empirischer Forschung auffährt. Man möchte fast, um im Titel-Bild zu bleiben, Triggerwarnungen aussprechen an jene, die in den letzten Jahren aus kultursoziologischer Sicht eine weitreichende Entstrukturierung und kulturkämpferische Polarisierung der Gesellschaft konstatieren. Ungleichheiten haben sich verschoben, bleiben aber markant, Konflikte sind vielschichtiger und schärfer geworden, haben aber nicht zu jener Radikalität geführt, die in der öffentlichen Debatte häufig unterstellt wird. Die Autoren definieren den verführerisch eingängigen Begriff Triggerpunkte als

„jene neuralgischen Stellen, an denen Meinungsverschiedenheiten hochschießen, an denen Konsens, Hinnahmebereitschaft und Indifferenz in deutlich artikulierten Dissens, ja sogar Gegnerschaft umschlagen. Physiotherapeuten verstehen unter Triggerpunkten verhärtete Stellen oder ‚verkrampfte Zonen‘ des Körpers. Im Zuge von Übertragungen kann eine Berührung solcher Punkte – ein ‚Triggern‘ – auch in ganz anderen Körperregionen Schmerz auslösen. Ohne die Analogie zu medizinischen Begriffen überdehnen zu wollen, verstehen wir Triggerpunkte als jene Orte innerhalb der Tiefenstruktur von moralischen Erwartungen und sozialen Dispositionen, auf deren Berührung Menschen besonders heftig und emotional reagieren.“ (S. 246)

Mau (gemessen an seinen Auszeichnungen und Auflagen der derzeit erfolgreichste deutsche Soziologe) und seine Mitautoren identifizieren vier große Konfliktarenen: oben/unten-, innen/außen-, wir/sie- und heute/morgen-Ungleichheiten, die den sozialen Raum strukturieren und sich im politischen Raum spiegeln. Sie greifen auf die Cleavage-Theorie zurück, die relativ harte und dauerhafte Konflikt-Konstellationen identifiziert, entlang denen sich bei kritischen Weichenstellungen in historischen Großprozessen nachhaltig soziale Interessen und Identitäten formiert und die (westlich-europäische) Parteienlandschaft durchzogen haben. Spaltungslinien wirken eingefroren, bis ein neuer Strukturwandel sie aufsprengt. Und neue aufwirft? Im Fach Soziologe, so konstatieren die Autoren, seien an deren Stelle zunächst anhand neuer Themen (Frauenbewegung, Ökologie) Cluster von pluralisierten Lebensstilen, dann in Reaktion auf den Wandel neue Großgruppen mit auseinanderklaffenden Interessen und Werten getreten, die die soziale Mitte erodieren ließen. Aus einer Dromedar-Gesellschaft mit einem einzigen breiten Buckel werde (wieder) eine Kamel-Gesellschaft mit einem tiefen Graben zwischen zwei steilen Höckern – diesem Bild widerspricht das Autorenkollektiv, und damit den in die öffentliche Debatte vorgedrungenen Befunden einer Gesellschaft der Singularitäten und der Polarisierung.